Wann ist pädagogische Selektion sinnvoll?

"Everybody is a genius. But if you judge a fish by its ability to climb a tree, it will live its whole life believing that it is stupid." (Albert Einstein)
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Die neu strukturierte Bundesregierung hat ein vornehmes Ziel: In der Bildungspolitik sollen nun endlich wirksame Initiativen umgesetzt werden. Vielleicht sogar eine Reform? Ein Aspekt, an dem sich die politischen Vertreter/-innen in Österreich scheiden, ist, in welchem Alter eine effektive Selektion der Schüler/-innen stattfinden soll. Gleich vorweg: Den Begriff „Selektion“ finde ich im Zusammenhang mit Kindern höchst unpassend! Aber worum geht es bei dieser Diskussion?

Der Status Quo!

Aktuell werden im Alter von 10 Jahren die Weichen für die weitere Schullaufbahn gestellt. In diesem Alter entscheidet die Schulnachricht im Februar der vierten Klasse Volksschule, ob ein Kind für das Gymnasium (AHS) als geeignet eingestuft wird, oder, ob der Weg in die Neue Mittelschule führt, die qualitativ weit besser als ihr aktueller Ruf ist. Die Schüler/-innen der AHS Unterstufe setzen ihre Schulkarriere eher mit der AHS Oberstufe und einem Studium fort. Verkürzt bedeutet das: Kommt ein Kind ins Gymnasium, ist die akademische Laufbahn wahrscheinlicher. Am Ende der vier Jahre in der Neuen Mittelschule besteht die Möglichkeit, in die AHS Oberstufe zu wechseln, eine Lehre zu beginnen, oder eine HTL oder HAK zu besuchen. Einer akademischen Laufbahn stünde nichts im Wege. Wenn de facto den Schüler/-innen der AHS Unterstufe und der Neuen Mittelschule die gleichen schulischen Weiterbildungen möglich sind, stellt sich für mich die Frage, warum hier noch immer an einem trennenden System festgehalten wird. Geht es hier um die Wahrung einer Eliteillusion? Einer Illusion, die offenbar das Gymnasium besser kreieren kann, als die Neue Mittelschule.

Dieses Video zeigt die Hellerup School in Kopenhagen (Dänemark). Gut zu sehen ist die "Verbannung" der Klassenräume. Diese Schule ist eine gemeinsame Schule der 6 bis 14 Jährigen. Aufgrund von landesübergreifenden Jahresabschlussprüfungen in Dänemark ab dem Altern von 13 Jahren, kann das Leistungsniveau dieser Schüler/-innen gut eingeschätzt werden. Die schneiden in allen Wissensbereichen mindestens genauso gut wie Schüler/-innen konventioneller Schulen ab, verfügen aber über ungeahnte Social Skills, die sie bei weiterführenden Schulen sehr beliebt machen. 

Schnitt mit 10 sinnlos!

Gerne sehen wir in Österreich auf jene Länder, die in den P.I.S.A.-Tests weit vorne liegen. Meistens sind es die skandinavischen Länder, die als Vorbild dienen. Doch führen sie eine Trennung, Selektion oder Vorentscheidung mit 10 Jahren durch? Nein! Hier wird der Begriff „Gesamtschule“ konsequent zu Ende gedacht. Die erste Schule, die in Dänemark besucht wird, ist eine gemeinsame Schule der 6 bis 14-jährigen. Danach zieht es die Schüler/-innen gemäß ihrer Begabungen und Neigungen zu verschiedenen Schultypen - Fachschulen, Berufsschulen, Handelsakademien, Oberstufen-Schulen oder HTLs. Diese Schulen sind manchmal durchaus elitär und eine Differenzierung findet hier statt. Man nimmt an, dass junge Menschen im Alter von 14 Jahren ihre Neigungen, Interessen und Talente besser einschätzen können. Mit zehn Jahren - hier sind sich beinahe alle Expert/-innen einig - ist dieser Prozess nicht möglich und obliegt in den Händen der Eltern.

Sprich etwas gegen eine „Gesamtschule“?

Die österreichische Parteienlandschaft ist sich einig, dass die Schüler/-innen bestens vorbereitet werden sollen, die Ansätze könnten aber fast unterschiedlicher nicht sein. Während noch die Grünen und Neos Anleihen bei skandinavischen Schulen nehmen und die Stärken-Förderung sowie die Autonomie der Schulen stärken wollen, ist der Beitrag der anderen Oppositionsparteien bescheiden. Die FPÖ spricht von einer Sprachförderung, aber nur für jene Kinder, die Defizite haben. Abgesehen von der Tatsache, dass hier eine Überprüfung stattfinden muss, die natürlich auch administrativen Aufwand bedeutet, wird die Integrationskraft von Kindern negiert. Wieso sollten wir unsere Kinder nur freiwillig in den Kindergarten geben, während jene mit Sprachdefiziten eine Vorschulpflicht haben? Hier fände sofort wieder eine Ghettoisierung und Stigmatisierung schwächerer Kinder statt.

Der einzig relevante Beitrag des Team Stronachs ist, dass sie nach der nächsten Nationalratswahl vermutlich nicht mehr im Parlament vertreten sein werden. Unser Schulsystem mit privaten Anbieter/-innen retten zu wollen wäre, wie Wasser zu privatisieren, weil die Preise gestiegen sind. Der Verweis auf die Niederlande hinkt, weil das private Schulsystem dort ganz anders strukturiert ist und sich Schulbeiträge in überschaubaren Grenzen halten. Während die ÖVP dem Vernehmen nach langsam beginnt, ideologische Gräben zu überwinden, möchte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ), dass alle Kinder gute, faire und qualitativ gesicherte Voraussetzungen haben. Aus diesem Grund spräche tatsächlich nichts gegen eine „Gesamtschule“ skandinavischen Modells mit einer späteren Spezialisierung, die auch Berufsausbildungen (Anm. d. Red.: = Lehre) bedienen könnte. Der Stamm wäre allen identisch.

Fazit: Diskussion ohne ideologische Mauern gefordert!

Dass die Bildungsdiskussion trotz angeblicher Bildungsreform im November 2015 gerade erst begonnen hat, zeigen die Forderungen der Opposition nach Veränderungen. Nicht nur in Reihen der Opposition, auch im Regierungsteam wird Stillstand wahrgenommen, weshalb eine neue Bildungsministerin ernannt wurde. Es sollte der Fehler vermieden werden, wieder jede Maßnahme zu evaluieren, bevor sie dauerhaft implementiert wird, denn die Erfahrungen sind international vorhanden. Wie wäre es, wenn einmal die Implementierung evaluiert wird? Dann würde nämlich bekannt, dass die gemeinsame Schule der 10 bis 14-jährigen fehlerhaft umgesetzt wurde. Dann würde bekannt, dass den Lehrer/-innen das versprochene Support-Personal nicht zur Seite gestellt und der administrative Aufwand nicht reduziert wurde. Dass dann das Team-Teaching im Rechnungshof-Bericht als Kostentreiber kritisiert wird, analysiert das Problem nur an der Oberfläche.

Eine Reform funktioniert nur ohne ideologische Mauern und ohne Einzelinteressen. Landesfürsten dürften im Gegensatz zur Schulleitung in den wenigsten Fällen wissen, was am jeweiligen Schulstandort gefordert wird, weshalb nicht einzusehen ist, warum sie Zugriff auf die Bundeslehrer/-innen bekommen sollten. Vielleicht gelingt eine Bildungsreform fernab von Machtpolitik und politischen Kompromissen. Vielleicht wird endlich die Frage gestellt, wie und was unterrichtet werden soll und welche Agenden im Sinne der Subsidiarität besser beim Bund und welche besser in die Autonomie der Schulen gelegt werden. Jedenfalls sollte der „berühmte“ Schnitt mit zehn Jahren aus pädagogischer Sicht der Vergangenheit angehören …