Zentralisierung vs. Individualität?

"Bildung ist das, was die meisten empfangen, viele weitergeben und wenige haben." (Karl Kraus)
Quelle: http-//gutezitate.com/zitate-bilder/zitat-bildung-ist-das-was-die-meisten-empfangen-viele-weitergeben-und-wenige-haben-karl-kraus-121295

Dieser Tage ist sie der Lebensmittelpunkt der Maturant/-innen in Österreich. Die Zentralmatura - zentral gesteuert und individuell beantwortet. Die langen Vorbereitungen münden nun in eine Prüfungssituation, der viele Menschen - teilweise berechtigt - kritisch gegenüberstehen. Garantiert eine Zentralisierung ein bestimmtes Qualitätsniveau oder geht Individualität verloren? Ein paar Gedanken …

Es soll fair zugehen!

Das erste Argument für eine zentralisierte Reifeprüfung sind die Fairness und Chancengleichheit. Werden die Fragen von einer zentralen Institution formuliert und nicht mehr durch die jeweilige Lehrkraft, werden festgefahrene Muster innerhalb einer Alterskohorte einer Schule aufgebrochen. Auf individuelle Gegebenheiten wird nicht mehr reagiert und die Art, wie eine Fragestellung formuliert ist, bevorzugt a priori nicht mehr die „üblichen Verdächtigen“ eines Klassenverbandes. Doch gilt das auch für schwächere Schüler/-innen? 

 

Üblicherweise hat eine Lehrkraft die Schüler/-innen über die letzten Jahre hinweg kennengelernt und weiß, dass ein Klassenverband dynamischer und lernfreudiger als der Andere ist. Auf individuelle Gegebenheiten eingehen zu können, wäre fair - von allen Schüler/-innen das Gleiche zu erwarten, nur bedingt. Natürlich müssen Standards gewahrt und erfüllt werden.

Gleicher Grundstock für die weitere Entwicklung!

Bei dieser Frage werde ich als jemand, der sich mit Lehrplänen beschäftigt hat, stutzig. Ist nicht das Ziel der Lehrpläne und der in den Lehrplänen enthaltenen Kompetenzen, dass ein gewisses Niveau bei den jeweiligen Abschlüssen erwartet werden kann? Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass die Kompetenzen nicht effektiv geprüft werden können und daher eine zentralisierte Reifeprüfung notwendig ist. Das würde allerdings Schularbeiten, Prüfungen und Zeugnisse, die in den Jahren vor der Reifeprüfung erworben wurden, ad absurdum führen. Hier können Anleihen bei skandinavischen Schultypen genommen werden: Jedes Jahr finden zentralisierte Jahresabschlussprüfungen statt und die Matura ist die individuelle Kür am Ende der Schullaufbahn.

Weniger „Schiebung“!

Das ist wohl der einzige Punkt, dem ich voll und ganz beipflichten kann. Die Lehrkraft hat keine Möglichkeiten mehr, den Schüler/-innen vorab Maturafragen bekannt zu geben. Aber umgekehrt stellt sich die Frage, in wie vielen Fällen das tatsächlich passiert. Vermutlich ist diese Zahl vernachlässigbar.

Gibt es Alternativen?

"Da wir Chancengleichheit haben, lautet die Aufgabe für alle gleich: Klettere auf den Baum!
Quelle: http-//www.newsbook.at/images/newsbookBilder/ChancenGleichheit

Natürlich möchten die Verantwortlichen eines Bildungssystems gewährleisten, dass bestimmte Standards eingehalten werden. Sei es, um die künftigen Arbeitgeber/-innen von der Qualität ihrer künftigen Arbeitskräfte zu überzeugen, oder um Studienvoraussetzungen für die Weiterbildung sicherzustellen. Hier gehen viele Länder verschiedene Wege: Frankreich setzt auf die zentralisierte Reifeprüfung, die sogar von der Uhrzeit her auf die Minute abgestimmt ist.

 

Es werden Punkte erreicht, an denen sich bestimmte Universitäten bei der Auswahl ihrer Student/-innen orientieren können. In den USA findet sozusagen ein Splitting statt. Zum Einen der erreichte Schulabschluss, zum Anderen der SAT., ein Studieneignungstest, bei dem wieder Punkte erreicht werden können und wieder richten sich die Universitäten danach. Es findet ein zentralisierter Eignungstest unabhängig vom Schulabschluss statt. Deutschland setzt seit Jahren auf den Numerus Clausus, ein Notenschnitt, der für bestimmte Studienrichtungen vorausgesetzt wird.

Das Problem zentralisierter Tests!

Einen Aspekt gilt es  bei diesen Gedankenspielen stets zu berücksichtigen: Zentralisierte Tests, so fair sie in ihrer Idee sein wollen, bevorzugen und benachteiligen empirisch gesehen immer bestimmte Gruppen. Es wird nicht lange dauern, dann werden ähnliche Studien auch zur zentralisierten Reifeprüfung in Österreich die Runde machen. Dass eine zentralisierte Qualitätssicherung stattfinden muss - die Zahl der Schüler/-innen mit Leseschwächen belegt das - ist unbestritten. Ob die zentralisierte Reifeprüfung mit 18 Jahren das dafür geeignete Werkzeug ist, bleibt fraglich. Vielleicht würde es Sinn machen, zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt bestimmte Kompetenzen abzufragen, bevor wir - wie jedes Jahr - von den Ergebnissen der P.I.S.A.-Studie bloßgestellt werden. Vielleicht ist der goldene Mittelweg eine Lösung! Zentral formulierte Fragenkomplexe, die individuell (durch die jeweilige Schule) und mit den zentralen Institutionen koordiniert werden können. Vielleicht gelingt damit ein Brückenschlag zwischen Individualität und zentralisierter Fairness …

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Individualität und Autonomie!