Ich bin ein Kind Europas. Meine Schulzeit war von einer Aufbruchsstimmung gekennzeichnet, die im Beitritt Österreichs zur Europäischen Union ihren Höhepunkt fand. Plötzlich waren wir alle EuropäerInnen. Uns mochten die Sprachen trennen, aber die Ideale vereinen. Wir verstanden uns als Teil eines größeren Ganzen, das die Werte der Aufklärung ins 21. Jahrhundert zu bringen versprach. Wir sonnten uns in der Gewissheit, dem Rest der Welt moralisch ein Stück voraus zu sein. Doch aus dem Sonnenbad wurde ein Sonnenbrand und der Nationalismus des 19. Jahrhunderts erlebt eine gefährliche Wiedergeburt.
Die Solidarität als Einbahnstraße
Wenn es um die Verteilung des Reichtums geht, sind gerade die ehemaligen Länder des sogenannten Ostblocks die Ersten, die Fairness und Solidarität einmahnen. Geht es um die menschliche Solidarität mit Völkern, die ihr gesamtes Hab und Gut aufgrund von Kriegen, der Klimaveränderung oder der wirtschaftlichen Perspektivenlosigkeit verloren haben und hinter sich ließen, hört es sich damit auf. In meinem Verständnis hat das weniger mit Solidarität als mit blankem Opportunismus zu tun. Noch nie schien das Bild des Rosinenpickens so treffend wie heute. Im Übrigen verursachen wir mit unserer Lebensweise - wir kaufen Güter, die billig produziert werden und Menschen ausbeuten (z.B. Kleidung; Anm.) - viele der Schieflagen. Unsere Smartphones enthalten Tantal, das aus Coltan gewonnen wird und allein in Afrika über zwei Millionen Menschen das Leben kostete.
Ein Sprichwort besagt: „Wenn du mehr hast als du brauchst, baue keine höheren Mauern, sondern längere Tische.“ Die Europäische Union schien - zumindest bin ich in diesem Verständnis aufgewachsen - jener lange Tisch zu sein. Doch weit gefehlt. Greifen andere Menschen zu „unseren“ Lebensmitteln und Sozialleistungen, resultiert der Futterneid im Bau höherer Mauern (= in der Zurückweisung hilfsbedürftiger Menschen; Anm.). Besonders die Länder aus dem ehemaligen Ostblock wissen um die sozialen Konsequenzen, die Bürgerkriege und schwellende Konflikte mit sich bringen. Man nimmt mit offenen Händen Hilfe an, aber gleichzeitig wird diese für andere verwehrt.
Ich finde es unerträglich, dass die sogenannten Visegrad-Staaten nicht einmal an einer Lösung der Flüchtlingsverteilung interessiert sind und diese mitverhandeln, gleichzeitig aber die Nettoempfänger europäischer Mittel sind. Was würde passieren, strichen wir ihnen diese Mittel? Man würde mit der fehlenden Solidarität argumentieren. Und wie sieht es ihrerseits mit der Solidarität aus? Sollen die „reicheren“ Staaten diese Herausforderungen schultern und jenen, die an einer gesamteuropäischen Problemlösung nicht interessiert sind, weiter die Gelder überweisen?
Die Verhältnismäßigkeit ist gefragt
Ich störe mich nicht an der Tatsache, dass man selektieren sollte, wer Hilfe benötigt. In vielen Fällen ist das nicht gegeben. Ich störe mich an der Tatsache, dass alle Menschen unter Generalverdacht gestellt werden, indem alle in den Topf der Sozialflüchtlinge geworfen werden. Plötzlich spricht man von Pull-Faktoren unseres Sozialsystems. Das wäre angeblich so attraktiv, dass man sein Leben bei der Flucht riskiert, nur um hier die Abweisung zu befürchten. Mit etwas Verstand betrachtet, wirkt das einigermaßen grotesk. Natürlich wird es auch solche Menschen geben. Aber zu suggerieren, es handle sich um alle, ist fahrlässig.
Doch genau das ist das Narrativ, welches hier bemüht wird, statt die Relationen zu respektieren und nicht aus der Angst heraus, bei der nächsten Wahl Stimmen zu verlieren, zu polarisieren und einen Bruch der Gesellschaft zu riskieren. Aber dafür, diesem Eindruck kann ich mich nicht erwehren, steht dieses Europa unter der Führung dieser Staats-und Regierungschefs. Und leider nimmt hier Österreich eine befeuernde Rolle bei der Pflege dieser Abwärts-Spirale ein.
Die Sorgen eines Europäers
Vielleicht ist diese Haltung überholt und eine Demokratie kann nicht über die Grenzen des Nationalstaats hinaus funktionieren. Aber in meinem Verständnis waren in Europa alle Voraussetzungen für ein erfolgreiches Gelingen dieses ambitionierten Zieles vorhanden. Natürlich ist die Voraussetzung ein europäischer Grundkonsens. Die Verständigung darauf, dass die demokratischen Entwicklungen von der Antike bis heute innerhalb der Grenzen des Nationalstaats funktionierten, die Weiterentwicklung der Demokratie aber nicht eine autokratische Form mit Führerprinzip (= illiberale Demokratie; Anm.) ist, sondern die Ausdehnung auf verschiedene Nationen.
Dieser Grundkonsens einte Europa vermeintlich. Aus heutiger Sicht stellt sich die Situation etwas anders dar. Offenbar ist die demokratische Entwicklung der Mitglieder der EU wesentlich weiter auseinander, als man vor dem Integrationsprozess vermutete. Bedenken wir, dass die Länder des ehemaligen Ostblock erst frühestens 1989 so etwas wie Demokratie erfuhren, überrascht es wenig, dass hier von unterschiedlichen Niveaus ausgegangen wird. Leider findet eine Ansteckung im umgekehrten Sinn der Entwicklung statt.
Die Orientierung jüngerer Demokratien nach innen führt zu einem wiederbelebten Nationalismus in Westeuropa und in seinem Schlepptau zur Befeuerung des Populismus. Für die europäische Entwicklung, für das Zusammenwachsen und für die gestärkte Positionierung nach außen - denn darum geht es in einer globalisierten Welt letztlich - ist das kontraproduktiv. Dabei lägen die Stärken Europas in der gelebten Vielfalt. „In Vielfalt vereint“ heißt der Leitsatz. Ärgerlich, dass PopulistInnen durch eine Vereinigung der Staaten einen Verlust der eigenen Identität suggerieren. Genau das wäre Europa nicht.
In Vielfalt vereint
In der ersten Strophe der Ode an die Freude, der Hymne Europas, heißt es:
„Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.“
Kann man den beabsichtigten Geist Europas besser wiedergeben? Wenn wir alle Brüder und Schwestern werden, in Vielfalt geeint, wieso sind wir nicht miteinander solidarisch? Das gegenseitige Ausspielen der agierenden AkteurInnen ist an Kaltschnäuzigkeit in Bezug auf nationale Wahlen und an Kurzsichtigkeit hinsichtlich der europäischen Entwicklung nicht zu überbieten. In Österreich scheint um diese Haltung eine politische Professionalität zu entstehen, die besorgniserregend ist. Meine Hoffnung ist, dass wir in zehn oder 15 Jahren nicht auf das Jahr 2018 zurückblicken und feststellen, dass hier die Europäische Union mutwillig zugunsten nationaler Interessen zerstört wurde.